Nun liege ich am Strand von Comillas und weiß gar nicht so recht, wie ich den heutigen Beitrag beginnen soll. Im Grunde haben wir wenig in Bezug auf den Camino erlebt, der Tag war dennoch aufregend, besorgend, frohlockend und für mich persönlich auch absolut intensiv.
Die allmorgendliche Baywatch-Melodie schallt heute früh durch den Raum, diesmal leider in voller Lautstärke, sodass sicherlich der gesamte Raum aufwacht, ich mich vor allem aber aufs Heftigste erschrecke. Ich wecke Gert und Klarina und direkt fällt mir auf, dass Gert nicht wirklich in der Spur ist. Er fühlt sich gar nicht gut, sodass wir beschließen, den Tag in Comillas zu beiben. Gert sagt zwar ohnehin, dass laufen heute unmöglich ist, alles weitere beschließen wir Mädels aber und lassen auch keine Widerrede zu. Bleiben können wir in der Herberge aber nicht: nur wer krank ist, darf mehr als eine Nacht bleiben. Für Gert wäre das OK, für Klarina und mich aber nicht. Vor wenigen Tagen haben wir den Pakt geschlossen, zusammen zu bleiben – komme was wolle. Heute wird dieser Pakt noch einmal dick unterstrichen. Es ist vollkommen klar, dass wir zusammen bleiben, uns um den fast schon apathischen Gert kümmern und darauf hoffen, dass der morgige Tag besser wird. Klarina und ich sind ohne uns abzusprechen derselben Meinung, zumal diese Stadt mit Sehenswürdigkeiten und Strand absolut alles zu bieten hat für einen Tag Pause. Ich stratze um 7 Uhr durch die Stadt auf der Suche nach einer Pension, allerdings ist sie zu dieser Zeit noch geschlossen. In der Herberge können wir bis 9 Uhr bleiben, wir lassen Gert also schlafen und räumen derweil alles zusammen.
Als wir dann doch bald los müssen, sattle ich Gerts Rucksack auf, schnalle meinen eigenen Rucksack vorne um und bin damit mit rund 25kg beladen. Die Widerrede ist gering und mit dem kurzen Hinweis auf “Hallo? Team und so?!?!” habe ich auch schnell gewonnen. Die 25kg merke ich auch bald, weiß aber ja, dass die Pension nur wenige Schritte entfernt liegt und das Fotomotiv ist einfach zu lustig. Gert legen wir direkt ins Bett und ziehen von dannen, um ihm die nötige Ruhe zu lassen. Wir frühstücken vor dem Gaudí-Palast, besichtigen ihn von außen, laufen weiter bis zum imposanten Bau der Universität und schauen uns dann noch den wirklich beeindruckenen Friedhof an. Zwischendurch schauen wir immer mal wieder nach dem Patienten, bringen ihm Medikamente, er schläft aber den Schlaf der Gerechten. Ich genieße die Gespräche mit Klarina in einem Maße, wie ich es selten zuvor erlebt habe bei jemanden, den ich so unfassbar kurz kenne. Wir haben oft zur selben Zeit die gleichen Gedanken, und wenn die Meinungen auseinander gehen sind wir beide genau der Schlag Mensch, der eben auch das Gegensätzliche erlauben und akzeptieren kann.
Ich weiß, sie wird nun wieder die Tränchen kullern lassen, wenn sie das hier liest, aber dieses Frühstücksgespräch ist so unfassbar wohltuend, da sie es schafft, meine Gedanken und Gefühle in die richtige Spur zu lenken. Die Spur, die ich zuvor vermieden habe, die aber wohl die einzig richtige für mich ist.
Als wir noch einmal zurückkehren um uns in einem der Pension benachbarten Café niederlassen, steht auf einmal endlich wieder ein halbwegs gesund aussehender Gert im Eingang und fühlt sich tatsächlich wieder fitter. Wir wagen einen Spaziergang durch die Stadt und können sie ihm nun nach unserem morgendlichen Rundgang auch zeigen. Zuerst gehen wir aber in die Kirche, die im Gegensatz zu denen der vorherigen Städte endlich geöffnet ist. Ich bin beeindruckt, da sie keineswegs den Prunk und Pomp bereithält, wie ich ihn bisher aus spanischen Städten kenne. Ein rustikales Kreuz aus Baumstämmen, die obligatorischen Figuren von Jesus und Maria und eine für mich äußerst beeindruckende Darstellung des Kreuzweges gefallen mir schon sehr. Ich muss mich allerdings hinsetzen, fühle eine Welle an Emotionen über mich hereinschlagen, wie ich sie nicht erwartet habe und wie ich sie stehend nicht auffangen kann. Folgendes mag für manchen Leser übertrieben klingen, aber ich bin der Überzeugung, dass jeder Pilger auf dem Camino eine so tiefgreifende Erfahrung macht – ganz gleich, ob sie religiös oder spirituell motiviert ist, ob sie mit persönlichen Schicksalen oder mit tiefem Glück zu tun hat. Man sagt, dass der Camino jeden mindestens einmal zum Weinen bringt. Mein Moment war heute gekommen. Und er war von großartigem Glück geprägt.
Ich sitze also auf der Kirchenbank und bin wie vor den Kopf gestoßen. Ich bin erfüllt von Trauer um Vergangenes und Verstorbene aber gleichzeitig verzückt vor Freude und Glück über den Moment und mein Jetzt. Schon seit Tagen denke ich zwar über den Abschied am Freitag / Samstag nach, lasse das aber gar nicht so richtig an mich heran. Ich möchte im Hier und Jetzt leben, möchte jedes Gefühl dieses Caminos, ob schwer oder leicht, aufsaugen und in Energie umwandeln, möchte jeden so unfassbar kostbaren Moment mit Klarina und Gert in Kopf und Herz festhalten und einfach sein.
Ich bin wie erschlagen und stolpere fast aus der Kirche. Wir möchten die Sightseeing-Runde über Friedhof, Universität und Gaudí-Palast mit Gert machen aber ich komme überhaupt nicht klar, bin total in Gedanken versunken und kann mich kaum fassen. Am Friedhof angekommen muss ich mich setzen, lasse die beiden alleine hineinziehen und muss mich erst einmal sammeln. Mein “Jeder heult einmal auf dem Camino”-Moment ist gekommen. Ich habe keine Ahnung wieso und weshalb der Besuch dieser Kirche so etwas auslösen konnte, doch bin ich mehr als nur erfüllt von Dankbarkeit. Ich kann diesen beiden Menschen gar nicht oft genug sagen, was sie mir jetzt schon bedeuten und wie unfassbar wichtig sie für meinen Camino und mein Leben sind.
Während ich diese Zeilen schreibe, stelle ich erst einmal fest, wie ähnlich wir uns sind. Der eine versteht meine (marginal ausgeprägte) extrovertierte Seite und ich fühle mich hier daheim; der andere ist mir in meiner “Sicherheitszone” so unfassbar ähnlich und ich fühle mich verstandener wie selten zuvor. Vielleicht war es Bestimmung, dass wir uns getroffen haben, vielleicht nur Zufall. In jedem Fall ist es eine Begegnung fürs Leben. Und ich bin dankbar. Sehr. Auch wenn ich das jetzt schon so oft geschrieben habe.
So. Seelen-Striptease vorbei. Nach einem mehr oder weniger guten Essen liegen wir also am Strand, meditieren, hören Musik, versuchen uns an Kopfständen und genießen die untergehende Sonne, ohne Angst vor verschlossenen Türen haben zu müssen.
Und morgen geht es weiter, den gelben Pfeilen folgend.