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Tag 16: Um auftauchen zu können, muss man erst einmal untergehen

Nach einem Ruhetag fühlt sich Gert zum Glück wieder wohl und wir können heute weiterziehen. Die Nacht war für mich mehr oder weniger erholsam, da ich auf dem Zustellbett geschlafen habe – aber ich opfere mich ja gerne für die Beiden.

Wir verlassen die Stadt auf schnellem Weg, wagen es tatsächlich, an einem geöffneten Café vorbei zu gehen und den frühen Kaffee zu verschmähen und hoffen, wie jeden Tag, auf eine baldige Möglichkeit zur Einkehr. Wie immer werden wir enttäuscht. Die Strecke zieht sich auf Asphalt, wir schrubben die Kilometer aber sehr schnell. Wieder einmal bietet mein Buch mit der Kasper-Route eine Alternative zum offiziellen Weg, die eben nicht durchs Landesinnere, sondern an der Küste entlang und über Strände geht. Wir kommen an einem Golfplatz vorbei und es juckt mich doch schon sehr in den Fingern…

Wir gelangen in Gerra endlich an eine Bar, die geöffnet hat und zudem einen unfassbaren Blick über den vor uns liegenden Strand und die ihn einrahmende Steilküste bietet. Das Buch teilt uns mit, dass wir uns hier erkundigen sollen, wie der Tidestand gerade ist, da wir am Strand Felsen umrunden müssen und das nur bei Ebbe möglich ist. So wie wir sind, tun wir das natürlich nicht, sieht ja schließlich gerade auch wie Ebbe aus. Also stiefeln wir den Weg hinab zum Strand, entdecken schnell auch besagte Felsen, sehen das Wasser und denken uns: Ok, dann halt Schuhe aus und durch. Zwei Spanier amüsieren sich schon bei unserem Anblick und wir versuchen unser Glück. Gert geht vor, Klarina hinterher und ich bilde das Schlusslicht. Man bedenke, dass Gert ca. 16 kg auf dem Rücken trägt, dazu Bauchtasche und Schuhe um den Hals, Klarina und ich ähnlich behangen sind mit rund 11 kg auf dem Rücken.

Mit jedem Schritt stribbelt der Mann im Bunde die Hose höher, versinkt weiter im Sand, verliert den Stand und sinkt auf einmal zur Seite um. Der Rucksack taucht halb unter und Gert mit ihm, Klarina versucht ihn hochzuziehen, der nächste Schritt passt und er watet (ich bin mir sicher, innerlich fluchend) weiter. Klarina und mir sind die Wellen aber zu hoch, wir wissen nicht so recht, ob wir den gleichen Weg wagen sollen oder lieber über die Felsen klettern. Wir entscheiden uns für die zweite Option, Gert kommt uns vom Rucksack befreit entgegen und hilft uns auf die andere Seite. Man kann sich nicht vorstellen, wie unsicher man sich barfuß auf diesen scharfen Kanten fühlt und dabei weiß, dass ein kleiner Rutscher oder Fehltritt bedeutet, dass der Rucksack einen nach hinten zieht. Gert ist aber ganz Gentleman und hilft uns, wo er nur kann, wohlwissend, dass seine Sachen gerade unbeobachtet sind.

Es stellt sich heraus, dass fast nur die Regen-Ausrüstung im Rucksack nass geworden ist, dafür aber die Schuhe komplett und auch die Bauchtasche hat gelitten. Die Elektrogeräte sind wasserdicht verpackt und wir drei sichten sofort die Credencial, den Pilgerausweis –  das Wichtigste, dass jeder von uns außerhalb der Kreditkarte / Geld und dem Handy bei sich trägt. Gerade für Gert, der Stempel von bald 2.000 km bei sich trägt, ist dieses Dokument eigentlich das Kostbarste, das er dabei hat. Ich laufe die nächsten Meter mit meinen Fingern zwischen den Seiten, sodass sie nicht verkleben und die Tinte nicht weiter verläuft, wir finden einen Ort zur Rast, breiten alles Nasse aus und machen rund eine Stunde Pause zum Trocknen, Essen und für mich: Endlich zum Baden im Atlantik. Mit diesem Umstand habe ich auf diesem Camino eigentlich alles erreicht, was ich wollte und noch viel mehr. Ich wollte auf dem Camino schwimmen gehen und tolle Menschen kennenlernen. Ich war Baden und habe Herzensmenschen fürs Leben gefunden.

Jeder meiner Blogbeiträge des diesjährigen Caminos ist mit einem Spruch oder einer Weisheit des Tages überschrieben. Die heutige fällt mir natürlich aufgrund des vergangenen Ereignisses ein, auf den folgenden Kilometern wird mir aber klar, dass dieses Gleichnis auf unsere drei Leben ziemlich gut passt. Ich gehe aus persönlichen Gründen nicht weiter darauf ein, wenn die beiden dies hier aber lesen, werden sie hoffentlich kräftig mit dem Kopf nicken und verstehen, was ich meine. Und dass dieser Camino unser gemeinsames Auftauchen bedeutet.

Nachdem ich halbwegs getrocknet bin und so auch Gerts Klamotten ziehen wir weiter – es stehen uns noch knapp 2 km entlang des Strandes bevor, die wir barfuß laufen. Nach einer Fußdusche und einem kurzen Supermarkt-Stop geht es weiter die Straße entlang, wir lassen San Vicente de la Barquera hinter uns und langsam wird die Temperatur heftig. Das iPhone meldet rund 30 Grad, es weht kein Wind und die Hitze steht wieder auf der Straße. Auch wenn wir uns auf gerader Strecke meistens verteilen und jeder sein eigenes Tempo läuft, sind wir bergauf immer in einer Gruppe. Gert ist nicht zu schlagen, Klarina ist ohnehin fit und auch ich merke, dass die vergangenen zwei Wochen und 300km nicht spurlos an mir vorrüber gegangen sind.

Über nun endlich mal wieder schöne Wege außerhalb der großen Städte erreichen wir ein kleines Dorf, in dem wir Pause machen möchten. Eigentlich sind wir abgeschreckt von den Pilgermenüs, entscheiden uns aber mit einem Blick auf den Nachbartisch doch dafür und werden belohnt. Ein Salat mit Früchten, Frucht-Chips, Büffelmozzarella und Balsamico ist schon einmal eine großartige Vorspeise, die von Schnitzel, Kartoffelspalten und Spiegelei als Hauptgang begleitet und mit einem hausgemachten Milchreis abgerundet wird. Diese Zufälle sind so witzig – noch vor einer Stunde haben wir uns darüber unterhalten, dass man bei diesen Menüs für 10 – 15€ auch mal was tolles auftischen kann und vor allem mal etwas anderes als ein liebloser Fleischlappen wie sonst – ein Schnitzel zum Beispiel. Und ZACK, haben wir eines auf dem Teller. Der Camino gibt Dir eben, was Du brauchst.

Wir reservieren ein Zimmer in der Pension, die uns Nancy dank Facebook empfohlen hat, schrubben somit aber 9km mehr, als wir eigentlich für den Tag vorhatten. Es geht es uns aber so gut, dass wir kein Problem damit haben, vor allem die lange Pause und das gute Essen haben ihren Beitrag hierzu geleistet. Über Waldwege und Straßen geht es weiter, bis wir bald endlich die Grenze zu Asturien überqueren. Damit habe ich auf diesem Camino sowohl das spanische Baskenland als auch Kantabrien abgeschlossen und beende ihn auf asturischem Boden. Die letzten 4km geht es erst steil bergauf, wir fühlen uns fast schon verarscht, fluchen ein wenig (OK, ich) und geben uns der Hitze hin.

Später am Abend werde ich merken, dass ich heute zu lange ohne Kopfbedeckung gelaufen bin, zudem halten mich wirre Gedanken und innere Dämonen davon ab, die letzten Kilometer bis zur Unterkunft auch nur halbwegs zu genießen. Ich kämpfe schlimm mit dem Weg und mit mir, merke, dass die beiden aufschließen und sicherlich auch etwas merken. Ich kann aber nicht darüber sprechen, was mich bewegt und was der Weg über mich hereinbrechen lässt, muss mich fangen. Kann noch nicht darüber sprechen, weiß aber, dass ich in beiden verständnisvolle Zuhörer für den (vielleicht späteren) Fall der Fälle habe und mit einem, von dem ich mir sicher bin, dass ich gar nicht viel erklären muss. Die wirren Gedanken werden von einem Funken Glück durchbrochen, nicht zuletzt, da wir endlich, nach 32,5 km die Unterkunft erreichen und damit sowohl Bier, Dusche als auch “Feierabend” nahe sind.